Der Spiegel ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits ermöglicht er uns, unsere Wirkung, unsere Schönheit, überhaupt unser Gesicht zu sehen. Andererseits offenbart er ungnädig jeden Mangel, den man sonst nie bemerkt hätte.
Was meinst du, wäre unser Leben heute anders, gäbe es keine Spiegel? Ich bin mir ziemlich sicher, dass vor allem das Leben von Frauen ein Stück weit anders wäre. Auch wenn andere Menschen gerne die Aufgabe von Spiegeln für uns übernehmen. Durch Komplimente – oder Kritik an unserem Äußeren.
Wie benutzt du deinen Badezimmerspiegel?
Beobachte doch einmal, was du denkst und fühlst, wenn du morgens vor den Spiegel trittst. Schaust du gerne hinein? Vermeidest du den Blick? Und wonach suchst du?
Sicher ist dir auch schon der Cartoon begegnet, bei dem ein Mann mit deutlichem Bauch vor dem Spiegel steht und einen muskelbepackten Adonis darin erblickt. Und daneben die normal geformte Frau, die im Spiegel eine furchtbar deformierte Gestalt wahrnimmt.
Das ist zwar ein Klischee, aber ein Fünkchen Wahrheit ist dran. Wir Frauen sind darauf trainiert, unsere äußere Erscheinung super kritisch zu überprüfen.
Daher ist es ziemlich wahrscheinlich, dass du beim Blick in den Spiegel nicht zuerst bemerkst, wie schön du bist – sondern dass da ein neuer Pickel ist, die Augenringe sichtbar sind, die Fältchen und überhaupt …
Warum ist das so?
Der wichtigste Grund, warum wir so kritisch mit unserem Äußeren sind und so sehr auf Fehler fixiert sind? Wir erleben in unserer Gesellschaft genau das und stellen es im eigenen Badezimmer nach.
Wenn du dir einmal vor Augen führst, wie mit dem Aussehen von prominenten Frauen in den Klatschspalten Schlagzeilen gemacht werden – und wie wenig mit ihrer Persönlichkeit, ihrer Leistung, ihrem Werdegang, dann ahnst du, wie die Gesellschaft tickt. Noch immer ist es so, dass Frauen nach ihrer Figur, ihrem Aussehen, ihrer Körbchengröße und der Vorteilhaftigkeit ihrer Kleidung, Frisur und des Make-ups beurteilt werden.
Nicht nur von Männern, die anhand dieser Kriterien auswählen, wer ihnen gefallen könnte und wer nicht. Auch und ganz besonders Frauen untereinander legen großen Wert darauf, wie angemessen das Äußere einer anderen Frau ist. Und was nicht schön genug ist, bietet die Grundlage für Getuschel.
Auch Frauen, die äußerlich keine Makel aufweisen, die man ihnen ankreiden könnte, bekommen unter Umständen massive Abwertung von Geschlechtsgenossinnen ab. Dann wird unterstellt, die Frau nutze nur ihre Schönheit, um etwas zu erreichen, sie wäre dumm, ein Flittchen … du kennst das.
Das Äußere bestimmt den „Wert“
Lange Zeit war auch tatsächlich das Aussehen einer Frau – neben ihrer Herkunft – das wichtigeste Kriterium, um einen Partner zu finden. Denn einen Beruf erlernen, selbstständig sein, den eigenen Weg gehen? Das war noch vor gut 100 Jahren hier zu Lande nicht so einfach möglich. Noch in den 1980ern war es ein ausgewachsener Skandal, alleinerziehend zu sein.
Der Lebensweg einer Frau bestand darin, sich einen möglichst passablen Ehemann zu sichern und das dadurch, dass sie gesund und begehrenswert aussah.
Ebenso wichtig: An der Keuschheit einer Frau durfte kein Zweifel bestehen.
Also, was tun? Die Schönheit herausstellen, aber nicht zu sehr. Die Konkurrenz verunsichern, schöneren Frauen ihren guten Ruf absprechen.
Enge Mieder, hochgeschobene Brüste und aufwändige Frisuren verbesserten die Chancen. Und selbstverständlich legten Eltern darauf Wert, dass ihre Töchter schön und sittsam daher kamen. Dass sie dazu fleißig, anspruchslos und ohne eigene Bedürfnisse sein sollten, ist nochmal ein anderes Thema.
Die Sorge der Verwandtschaft, ob ein Mädchen zu dick oder zu dünn aussah, hing nicht zuerst an der Sorge über ihre Gesundheit, sondern daran, ob sie so an den Mann zu bringen war.
Wie gesagt, das kommt uns heute alles antiquiert vor – ziemlich Mittelalter – aber es dauert lange, bis eine Gesellschaft sich verändert und die Verhaltensweisen sich anpassen.
Die magische Anziehungskraft von Problemen
Und auch heute ist die Bewertung des weiblichen Körpers immer noch ein brandheißes Thema. Was meinst du, wird dabei nach den schönen Eigenschaften gesucht oder nach den Mängeln?
Ganz klar, es werden Mängel gezählt.
Das ist nicht nur beim Äußeren von Frauen so, generell sind Menschen großartige Problem- und Fehlerfinder. Sie wären auch gute Problemlöser, aber die Fehlersuche bei anderen ist oft ein einfacher und bringt schneller kurzzeitige Erleichterung.
In der Regel erzählen wir, was uns an Kollegen nervt, was in der Arbeit schief gegangen ist, wie unfair dies war und dass die Bahn schon wieder Verspätung hatte.
Was uns an einem Kollegen gefällt, was Spaß gemacht hat, dass etwas gut gelaufen ist oder geklappt hat – das kommt erstaunlicherweise eher selten zur Sprache.
Das hängt damit zusammen, dass wir für Gemeinheiten und miese Umstände Mitgefühl von anderen bekommen. Alle nicken zustimmend, bedauern uns, teilen eigene blöde Erfahrungen und man sitzt schön einem Boot.
Wenn du die guten Dinge freudestrahlend erzählst? Die richtigen Menschen freuen sich aufrichtig mit dir. Viele beäugen dich aber auch misstrauisch oder reden dir deine Freude aus, halten ihre eigene Unzufriedenheit dagegen.
Geteilte Begeisterung wird da manchmal zu verpuffter Begeisterung.
Wir haben uns also irgendwann daran gewöhnt, eher nach den blöden Dingen Ausschau zu halten, weil wir damit guten Gesprächsstoff haben. Auch die Nachrichten sind voll mit schlechten Botschaften – über all die Flugzeuge, die sicher gelandet sind, schreibt nie jemand einen Artikel. Der eine Absturz ist DAS Thema. Auch sich zu viele Hoffnungen zu machen, allzu optimistisch zu sein, wird einem gerne ausgeredet. Man könnte ja enttäuscht werden, also erledigen das hilfsbereite Menschen lieber sofort …
Du kennst diese Mechanismen sicher.
Kaum etwas gewinnt so viel Aufmerksamkeit wie Skandale, Dramen und Dinge, über die man sich gemeinsam empören kann.
Frauen und das Alter
Ein weiterer Grund, warum wir Frauen mit uns hadern, ist das Altwerden. Männer, so heißt es, sind wie guter Wein, sie werden nur besser. Aber Frauen?
Stell dir vor, da hängt das Bindegewebe durch, Falten kommen und – Gott bewahre – graue Haare!
Auch das triffst du häufig in Medien für Frauen: So siehst du jünger aus! Vermeide diese Fehler, sie machen dich älter! Unter Berichten über Frauen, die ihr Grau sichtbar am Kopf tragen, finden sich erschreckend viele Kommentare von Nutzerinnen, die das ganz furchtbar finden, weil sie damit ALT aussehen.
Die Angst vor dem Altwerden wurde uns Frauen ebenso eingetrichtert, wie die Angst vor einer zu fülligen Figur. Wir wollen deshalb unter allen Umständen vermeiden, dass wir so alt aussehen, wie wir sind und nennen unser Alter oft auch nur ungern.
Warum eigentlich? Warum werden wir nicht auch einfach nur besser? Erfahrener, reifer, selbstsicherer, entspannter?
Warum müssen wir mit sechzig noch aussehen wie mit zwanzig? Warum dürfen wir nicht stolz auf unser Alter und unsere Erfahrung sein?
Weil wir dann nicht mehr sexy sind. Weil alte Frauen unattraktiv sind … sagen zumindest Leute, auf deren Meinung man nicht allzu viel geben sollte 😉
Dabei haben Frauen in ihren späteren Jahren eine ganz andere Kraft, Unabhängigkeit und eine tiefere Schönheit, als ein Teenager sie haben könnte. Vielleicht ist genau das der Punkt – Weisheit und Kraft sind für andere unbequemer, als unsichere Mädchen, die alles tun, um irgendjemandem zu gefallen …
Die Macht der Industrie
Schon lange gibt es ganze Wirtschaftszweige, die allein deshalb existieren, weil wir um jeden Preis jung und schön aussehen wollen. Die Kosmetik-Industrie, die Mode, die Schönheitschirurgie … da fließen jährlich Abermilliarden.
Und die fließen auch deshalb, weil uns unser Körper als Großbaustelle verkauft wird. Niemand müsste wegen ein paar Dellen in den Schenkeln die Krise kriegen – doch seit dieses Phänomen Cellulite heißt und man dagegen was kaufen kann, ist es ein riesen Problem.
Früher hatte man eben Falten – jetzt muss man alles mögliche dagegen unternehmen.
Dadurch, dass uns diese möglichen Makel und die dazugehörige Lösung ständig unter die Nase gehalten werden, können wir sie kaum mehr an uns selbst ignorieren.
Auch die super perfekten Fotos von Models machen es uns schwer, unsere eigenen Körper anzunehmen. Dabei wissen wir zwar, dass das richtige Licht, Make-up, die Posen, Photoshop und Inszenierung die Hauptgründe für makellose Bilder sind. Und ja, einige wenige Menschen haben vielleicht kaum Dellen und Streifen auf der Haut. Doch weil wir fast nur solche Körper hochauflösend zu Gesicht bekommen, glauben wir, alle anderen sähen so aus. Nur wir selbst nicht.
Tja, und wenn du jetzt vor deinen Badezimmerspiegel trittst und morgens vielleicht noch nicht super wach aus dem Schlafanzug schaust, laufen unbewusst all die Programme ab, die du im Laufe deines Lebens angenommen hast. All deine Überzeugungen und Ängste sind dabei, wenn du dir entgegen blinzelst.
Du weißt, dass dein Aussehen super wichtig ist und das optische Fehler ein echtes Problem sind. Du weißt, dass Anzeichen von Alter und Reife keine guten Zeichen sind. Und du machst dich an die Fehlersuche, um das ganze Ausmaß der Katastrophe zu erfassen.
Wenn du also bemerkst, dass dein Blick sofort den neuen Pickel sucht, an den Augenringen hängen bleibt und dass du deine Haare doof findest, diese Knitterfalten und überhaupt deine Nase so blöd aus dem Gesicht ragt – dann hat das unbewusste Fehlersuchprogramm, das fast alle Frauen fahren, ganze Arbeit geleistet.
Schätzungen zufolge sind 91% der Frauen mit ihrem Körper unzufrieden. 91 % – das sind so gut wie alle. Kannst du dir das vorstellen?
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So kehrst du dein Suchprogramm um
Wenn du an die Frauen denkst, die du kennst, meinst du 91 % von ihnen sind super hässlich und sollten ihre Körper besser verstecken? Sicher nicht! Du findest die meisten von ihnen optisch völlig okay oder machst dir gar keine großen Gedanken um die Form ihrer Schenkel oder Ohrläppchen oder die Tiefe ihrer Falten.
Doch 91 % von ihnen betrachten sich selbst im Spiegel und sind unglücklich mit dem, was sie sehen. Ist das nicht wahnsinnig traurig?
Wenn du dich dabei erwischst, dein unbewusstes Fehlersuchprogramm vor dem Spiegel zu fahren, dann lade ich dich dazu ein, bewusst etwas anderes auszuprobieren: Suche Schönheit!
Frage dich: Warum bin ich schön?
Und dann finde Gründe.
Vielleicht fällt es dir zunächst schwer, weil es ungewohnt für dich ist. Und weil all die vermeintlichen Fehler dir noch so übermächtig vorkommen. Aber es ist wirklich eine Frage der Gewohnheit!
Warum bist du schön?
Weil deine Augen leuchten? Wegen der Farbe deiner Iris? Weil dein Lächeln strahlt? Wegen deinem Grübchen? Weil du so verwurstelt eigentlich echt sympathisch aussiehst? Weil du gute Laune hast? Der Lippenstift so gut zu dir passt?
Suche jeden Tag, jedes Mal vor dem Spiegel bewusst nach Gründen, warum du schön bist. Dein Unterbewusstsein wird dir helfen, die Frage zu beantworten, und du wirst immer leichter Gründe finden.
Und immer schöner werden.
Nicht weil die Falten, Pickel und Augenringe weg sind – sondern weil du dich schön fühlst und glücklich aus dem Spiegel zurückschaust.
Und das ist wirklich richtig schön! In jeder Hinsicht!
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(c) Beitragsfoto: SHOTPRIME // Canva, lizensiert durch Canva
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