Manchmal braucht es nur einen klitzekleinen Anstoß von außen, um die Puzzleteile, die man schon ewig kennt, plötzlich aneinanderfügen zu können. Mir ging es heute so, als ich auf dem Supermarktparkplatz kurz durch meine Facebook-Timeline gescrollt habe und an einem Beitrag hängen geblieben bin.
Wenn du magst, komm mit auf eine kleine Exkursion zu meinen persönlichen Puzzleteilen. Vielleicht findest du dich auf deine Weise darin wieder oder kannst für dich einen Anstoß mitnehmen, der dir hilft, das eine oder andere zusammenzufügen.
Bei dem erwähnten Beitrag ging es um einen Bericht über eine Frau, die bei Nacht und Nebel mit ihren Kindern vom Bauernhof ihres gewaltätigen Mannes und der Schwiegereltern floh. Mehr als die Überschrift habe ich nicht gelesen, ich musste es auch nicht. Sofort hatte ich die Atmosphäre im eigenen Elternhaus wieder in mir präsent. Sofort waren die Geschichten wieder da, an die ich mich teilweise nur nebulös erinnere oder die mir aus Erzählungen so vertraut sind, dass ich sie szenisch vor mir sehen kann. Und die Geschichten, an die ich mich verdammt gut selbst erinnern kann.
Das hier ist das Erste der beiden Puzzlestücke:
Meine Mutter ist nicht geflohen. Zumindest sehr lange nicht. Zu lange. Sie war früh mit mir schwanger, heiratete meinen Vater und zog aus dem eigenen bäuerlichen Elternhaus, in dem sie von klein auf die Dienstmagd ihrer Brüder war, auf den Hof der Schwiegereltern. Ich möchte nicht ins Detail gehen – nur so viel: Sie kam vom Regen in die Traufe. Sie war unfassbar jung, hatte keinerlei Lebenserfahrung auf eigenen Beinen gesammelt, kannte sich selbst nur als das Mädchen, das schuften muss, um halbwegs okay zu sein. Und sie war keinen Augenblick lang willkommen dort, wo das Schicksal sie hinverschlagen hat.
Dass zu ihrem sicherlich niedrigen Selbstwertgefühl und der Ablehnung, die ihr entgegenschlug, bald massive psychische Probleme kamen, ist eigentlich nur logisch. Und dass sie mir zunächst insgeheim, später auch deutlich die Schuld an ihrer Lage gab, ist zwar nicht nett oder fair, aber doch irgendwo verständlich.
Mein Leben hat sie in diese Lage gebracht. Sie hat sich entschieden, mich zur Welt zu bringen und die gesellschaftlich erwartete Route einzuschlagen, und landete in einem Sumpf aus Erniedrigung, Leistungsdruck und Einsamkeit.
Und ja, wahrscheinlich wäre sie auch ohne eine allzu frühe Schwangerschaft letztlich in eine ähnliche Lage geraten, einfach weil sie es nicht anders kannte und für sich selbst auch nichts anderes erwartet hat. Wir kommen unserer Prägung, unserem verinnerlichten „Normal“ nicht aus Versehen aus, sondern nur, wenn wir die dazu nötige Entwicklung durchlaufen können. Was wiederum Zeit und Raum voraussetzt, damit das geschehen kann.
Wie mein „Normal“ aussah, kannst du dir vielleicht denken. Es war ähnlich bescheiden wie das meiner Mutter, auch wenn meine Eltern mit bereits einiges ersparten, was sie selbst durchleben mussten. Zwar hatte ich früh schon genug Durchblick, die Beziehungen und Verhaltensmuster in meiner Familie zu verstehen, ich konnte klar sehen und benennen, was schief läuft. Aber das half mir nur bedingt. Ich wurde nicht gehört, nicht gesehen. Nicht als der Mensch, der ich bin. Nicht mit meiner Feinfühligkeit, mit meinem eigenen Gefühl für Recht und Unrecht. Bis ich mit 19 das Elternhaus endgültig verließ, war ich selbst höchstens das Schwarze unterm Fingernagel wert. Was immer ich sagte oder vom Leben wollte: Alles Quatsch.
Es hat lange gebraucht, bis ich wirklich begreifen konnte, was mit mir geschehen war, wie krass und zerstörerisch das tatsächlich war und wie prägend. Und wie falsch meine Annahme war, dass ich nichts beizutragen habe, nicht gehört und nicht gesehen werden brauche und das, was ich tatsächlich bin, komplett idiotisch und weltfremd ist.
Ja, ich war weltfremd. Fremd in der Welt, in die mich meine Mutter hineingeboren hat. Sie war selbst so fremd darin, dass sie daran zerbrochen ist – und hat doch ihren Teil dazu beigetragen, dass ich lange keine Wurzeln schlagen konnte. Dass die Welt, in der wir lebten, keine andere wurde.
Nein, sie war so hart gegen sich selbst, wie es alle um sie herum auch mit ihr waren. Und so war sie auch zu mir. Ich weiß nicht, ob sie sich eine liebvollere Beziehung zu ihrem Kind gewünscht hätte. Ich weiß nicht, ob ich mir eine zu ihr gewünscht hätte – dass es so etwas überhaupt gibt, wusste ich nur theoretisch.
Aber warum erzähle ich dir das?
Weil es noch ein zweites Puzzlestück gibt, das über mich und die Welt meiner Familie weit hinausgeht.
Auf dem Supermarkt-Parkplatz habe ich kurz durch die Kommentare geklickt, die sich unter dem geteilten Artikel sammelten. Einmal kam „selbst Schuld“ – klar, was heiratet die Frau auch in ein destruktives Haus ein … Unzählige andere liefen aber, was ich persönlich wirklich erschreckend fand, auf etwas anderes hinaus. Nämlich auf „das kenne ich auch“. In diesem Beitrag ging es explizit um Bauernfamilien – und ich habe als Kind einige kennengelernt und hätte in keiner freiwillig leben wollen. So rabiat und erniedrigend wie man mit dem Vieh umgeht, tut man es auch innerhalb der Familie. Und ganz besonders mit den Frauen. Gebären, Kinder versorgen, arbeiten – alles zack, zack, ohne Mitleid, ohne Rücksicht. (Was nicht heißt, dass vor gut 30 Jahren alle so drauf waren oder heute alle so drauf sind. Ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen. Aber das bäuerliche Umfeld ist speziell.)
Der Punkt ist trotzdem: Unglaublich viele Frauen wachsen überall in unserer Gesellschaft in einem Klima auf, das sie nicht annähernd so wertschätzt und unterstützt, wie sie es verdienen. Und wenn wir uns beispielsweise die moderne Geburtshilfe anschauen, die in der Breite weit davon entfernt ist, Frauen bei einer eigenmächtigen und würdevollen Geburt ihrer Kinder zu begleiten, und wie wenig Anstoß wir öffentlich daran nehmen, wie dort mit uns umgegangen wird, dann sehen wir, dass der Weg noch weit ist. Wir sehen es in Beziehungen, in denen die Frau dem Mann ihre Sensibilität und ihre Wechselhaftigkeit so gut wie möglich erspart – oder seine Beteiligung an einer Verhütung, die den Körper der Frau und ihre Fruchtbarkeit selbstverständlich respektiert.
Der Weg dorthin, dass jede Frau in sich selbst ihren Wert, ihre Macht, ihre einzigartige Gabe für die Welt erkennen darf. Dass jede Frau ganz natürlich Respekt für sich, ihren Körper, ihre Weiblichkeit, ihre Sensibilität und ihre Wandlung im Laufe ihres Zyklus erhält. Für ihre Talente, ihre Gaben und die Liebe, die sie in die Dinge steckt, die sie tut. Dorthin, dass wir nicht mehr versuchen müssen, möglichst taff und markig daher zu kommen, um beruflich nicht auf dem Abstellgleis zu landen, dorthin, dass wir für soziale Berufe gerechte Bezahlung erhalten. Dahin, dass unsere Fürsorge für Kinder und Partner, die Eltern, den Haushalt nicht mehr als unser zusätzliches Vergnügen neben dem Vollzeitjob betrachtet werden, sondern wirklich eine gerechte Aufteilung der Alltagsbelastung möglich wird. Dorthin, dass wir nicht mehr hart und herzlos gegen uns selbst sind und auch nicht gegen andere Frauen, an deren Mangelhaftigkeit wir uns aufwerten.
Wir brauchen Heilung auf so vielen Ebenen
Wir brauchen Raum und Zeit zu heilen, vor allem aber die Bereitschaft dazu. Wir müssen uns ansehen, was uns schmerzt, müssen so genau und unerschrocken hinschauen, wie wir nur können – um all den Schmerz, die unterschwellige Erniedrigung, das Kleinmachen und Relativieren unseres Wertes und unserer Leistung nach und nach zu lösen.
Dazu brauchen wir zuerst Verständnis für uns selbst, unser Mitgefühl für uns selbst. Und dann ganz dringend Verständnis füreinander. Wir brauchen Zusammenhalt und Güte unter uns Frauen, wir brauchen es, uns gegenseitig zu stützen, zu schützen, uns Raum zu geben und beieinanderzubleiben, bis es uns besser geht. Wir brauchen unsere gegenseitige Ermutigung und wir brauchen ganz oft einfach jemanden, der in uns das sieht, was wir tatsächlich sind.
Nicht das, was wir zu sein glauben, weil unsere Umwelt uns das glauben macht(e).
Wir brauchen jemanden, der uns freundlich und mit Güte begegnet, der versteht, was wir meinen, was wir fühlen und – wie schwer das manchmal in Worte zu fassen ist. Weil vieles so grundlegend falsch läuft, die Probleme so allgegenwärtig sind, dass wir sie kaum von uns selbst trennen und mit dem Finger darauf zeigen können. Oder weil es einfach keine Worte dafür gibt.
Als ich mit meinem Einkauf nachhause gefahren bin, fügten sich diese beiden Puzzleteile zusammen. Dass diese beiden Teile irgendwie zusammengehören, konnte ich mir im Kopf auch ausrechnen. So kompliziert ist dieser Zusammenhang ja nun auch nicht. Aber eine Verbindung, die der Kopf, der Verstand herstellt, ist das eine. Es wirklich tief und durch und durch zu spüren, ist das andere. Das, was etwas erst real und wirklich begreifbar macht. Und das, was echte Kraft, Mut und Überzeugung gebiert.
Ja, ich habe die destruktive Realität meiner Mutter zementiert, indem ich zur Welt kam. Ich habe mit ihr dort gelebt, ich habe erlebt, wie krass allein Ablehnung, Feindseligkeit und Entwürdigung einen Menschen zerstören kann. Und ich habe selbst Schaden genommen, den ich mir anschauen, mit dem ich leben und den ich wandeln darf.
Mein Anliegen, Frauen zu unterstützten, sie an ihre Wunderbarkeit, an ihren unfassbaren Wert, an ihre Magie zu erinnern, war unterschwellig schon lange in mir präsent. Lange, bevor ich all das für mich selbst fühlen konnte. Lange, bevor ich mich traute, einen Blog zu starten oder auch nur irgendetwas davon halblaut auszusprechen. Lange, bevor ich mich überhaupt in Erwägung zu ziehen traute, anderen eine helfende Hand reichen zu können.
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Berufung ist ein Gefühl, ein überwältigend starkes
Aber heute auf dem Heimweg habe ich es gefühlt. Ein Gemisch aus Schmerz und Liebe und eine unverrückbare Gewissheit: Wir Frauen brauchen einander. Wir brauchen unsere eigene Liebe und wir brauchen die Liebe der anderen Frauen. Wir brauchen unser Verstehen, unser Sehen und Gesehen werden. Und es ist auch an mir, diese Welt zu wandeln. Jeden Tag ein bisschen, mit Millionen kleiner Schritte, wenn es sein muss.
Wir brauchen unseren kollektiven Selbstwert zurück. Wann genau der geschichtlich auf der Strecke geblieben ist? Lange, bevor Geschichte aufgeschrieben wurde. Wir waren viel zu lange Ware, Fortpflanzungsressource und kostenlose Arbeitskraft. Unser Gefühl, nicht viel wert zu sein, nicht stören zu dürfen, Weiblichkeit nur in gefälligen Bahnen ausleben zu können, und den Rest von uns besser zu verstecken, rührt daher. Aber dass es so nicht richtig ist, dass etwas Grundlegendes an dieser Sache gewaltig zum Himmel stinkt, das fühlen wir. Das fühlen wir in jeder Zelle, in jeder Faser unseres Körpers und mit jedem Atemzug aufs Neue. Wenn wir diese Wahrnehmung an uns heranlassen.
Es tut weh, sich zu ducken, sich zu verleugnen, die eigene Weiblichkeit zu verachten oder lächerlich zu machen, es tut weh, sich männlichen Gepflogenheiten anzupassen ohne zugleich auch Anpassung an das Weibliche erwarten zu können. Es tut weh, den eigenen Wert nicht sehen zu können, nicht fühlen zu können, wie stark, wichtig und besonders wir sind. Denn das sind wir!
Was ich zuhause gesehen und erlebt habe, war ein Drama in ungezählten Akten innerhalb des Mikrokosmos Familie. Aber dasselbe Drama ist unterschwellig viel zu präsent in unserer Gesellschaft, in zigtausenden Familien und Beziehungen, und es setzt sich fort.
Vielleicht war es notwendig für mich, in meinem Elternhaus zu landen, um all das nicht nur zu wissen, sondern es bis ins Mark zu spüren. Vielleicht war mein Verstehen und meine allmähliche Lösung aus diesem Sumpf wichtig, um jetzt tun zu können, wozu ich berufen bin. Vielleicht ist es auch gar keine Berufung, sondern einfach die logische Folge aus den zufälligen Umständen meiner Herkunft. Wer weiß. Letztlich spielt es aber keine Rolle.
Heute durfte ich fühlen, warum ich all das tue, was ich hier mache, warum es mir so wichtig ist, Frauen Mut zur Selbstliebe und zum Mitgefühl mit sich und anderen zu machen. Ich tue das nicht wegen mir. Denn ich bin geflohen und habe mich nach und nach aus den emotionalen Gefängnissen befreit, die ich wahrnehmen konnte. (Es kommen mit Sicherheit noch einige zu Tage, die ich jetzt noch nicht bemerke.) Ich tue das wegen ihr. Wegen meiner Mutter, die viel zu lange in einer Situation geblieben ist, die sie zutiefst zerstört hat – weil sie keinen blassen Schimmer hatte, wie verdammt wertvoll und besonders sie ist. Und weil sie überzeugt war, die Härte, die ihr entgegenschlug, wäre berechtigt. Und weil sie dachte, sie müsste stark sein und alles ertragen, statt zu erkennen, dass wahre Stärke bedeutet, miese Situationen hinter sich zu lassen.
Ich verdanke der Frau, die meine Mutter ist, nicht nur mein Leben. Ich verdanke ihr auch die tiefe Einsicht, dass Selbstwert und Würde nicht verhandelbar sind oder irgendwas mit Lifestyle, sondern dass es eine Frage von Leben oder (psychischem) Tod ist. Ich verdanke ihr die Motivation meines Handelns in dieser Welt.
Sie hatte immer mein Mitgefühl, sie hatte mein Verstehen. Ich sah sie immer – und jetzt sehe ich mich, die ihre Blut- und Erfahrungslinie weiterträgt und daran geht zu verändern, was so dringend verändert werden muss.
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